XXL Leseprobe
Die Götter sind nicht tot: Versprechen
KAPITEL 1
Ein ohrenbetäubendes Dröhnen riss Nora aus dem Schlaf. Sie schreckte auf und drehte sich ruckartig zur Seite, gefasst auf einen schlimmen Notfall, aber nicht auf das, was sie wirklich vor sich sah. Der dunkelhaarige Kerl einen Sitz weiter schlummerte friedlich und der Platz neben Nora war immer noch frei. Ihr Herz hämmerte in der Brust, während ihr Blick weiterirrte. Es hatte geklungen, als hätte jemand ein Presslufthorn direkt an ihrem Ohr ausgelöst – aber auch im Gang war alles ruhig. In der vorderen Sitzreihe kreischte ein Mädchen und zerrte dem Buben neben sich eine Puppe aus der Hand. Die Mutter ermahnte das Mädchen mit vor die Lippen gestrecktem Zeigefinger leise zu sein. Nora suchte vergeblich nach einer Spielzeughupe oder irgendetwas anderem in den Händen der Kinder, das diesen Lärm verursacht haben könnte. Die Mutter fing ihren Blick auf und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, wenn Sie die Kinder aufgeweckt haben.«
»Schon in Ordnung«, murmelte Nora, doch ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Dieser fürchterliche Laut war ihr durch Mark und Bein gegangen, immer noch hallte er in ihr nach und versetzte sie in höchste Alarmbereitschaft. Sie musste geträumt haben, aber dieses tiefe Tröten hatte so echt geklungen, so nah und durchdringend. Ein Presslufthorn war gar kein richtiger Vergleich, eher hatte es sich wie der Stoß eines mächtigen Kriegshorns angehört, so wie man es nur von epischen Filmschlachten kannte.
Vielleicht war es eine Warnung. Sie standen immerhin schon viel zu lange. Vielleicht war irgendetwas mit der Maschine nicht in Ordnung und sie sollte raus, solange ihr die Zeit dazu noch blieb. Nora fischte nach ihrer Handtasche am Boden und spannte schon die Beinmuskeln an, da kam ein Flugbegleiter den Gang hinab und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Herrgott noch mal, beruhige dich. Jetzt ist es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Sie stellte ihre Handtasche wieder ab und sank tiefer in den Sitz. Der Flugbegleiter hatte nun wirklich nicht ausgesehen, als würde ihn irgendetwas beunruhigen, und auch sonst schien alles normal.
Du hast nur geträumt. Nora griff in ihre Hosentasche und holte den Sorgenstein heraus. Sie umschloss ihn mit der Faust und nahm einen tiefen Atemzug. Ja, sie war kurz eingenickt und hatte geträumt, das war alles, und auch kein Wunder bei einer Abflugzeit mitten in der Nacht. Nora lockerte die Faust ein wenig und strich mit dem Daumen über den Sorgenstein. Mit ihrer gesamten Aufmerksamkeit konzentrierte sie sich auf die kühle, glatte Oberfläche und nahm noch einen tiefen Atemzug, um voll und ganz in ihrem Körper anzukommen. Nicht zu fassen, dass sie wirklich mit dem Gedanken gespielt hatte, aus dem Flugzeug zu steigen, und die Angst sie immer noch umklammerte. Wahrscheinlich waren auch die letzten Jahre mit schuld daran, dass sie sich so unwohl fühlte. Wenn man eine Zeit lang in einer Kfz-Werkstatt gearbeitet hatte, konnte man Technik nicht mehr vorbehaltlos vertrauen. Auch wenn Nora nur im Büro gewesen war, hatte sie doch eines gelernt: Autos gingen kaputt, alle von ihnen. Früher oder später waren die Ersatzteile verschlissen. Deswegen hießen sie ja auch so – sie mussten ersetzt werden. Sie spähte durch das ovale Fenster auf die riesigen Flügel. Im matten Scheinwerferlicht bewegten sich gerade die Querruder. Wie oft diese Dinger wohl auf- und abgehen konnten, bis sie ersetzt werden mussten?
Nora ließ den Sorgenstein nach vorn gleiten, Daumen und Zeigefinger fanden den Weg in die ovale Einkerbung wie von selbst. Sie drehte den Stein zwischen ihren Fingern, während ihr Blick erneut durch den Innenraum des Flugzeugs wanderte. In der Reihe vor ihr turnte das Mädchen jetzt singend auf der Mutter, der Typ neben Nora schnarchte leise und den Gang entlangschreitend kontrollierte der Flugbegleiter routiniert die Handgepäckfächer. Nein, ganz offensichtlich hatte niemand außer ihr diesen entsetzlichen Hornstoß gehört und so wie es aussah, machte sich auch niemand sonst Sorgen über versagende Technik.
Flugzeuge werden öfter und viel genauer überprüft als Autos, sagte sich Nora und schwang den Stein noch schneller. Dann warf sie ihn leicht in die Luft, fing ihn mit dem Handrücken ab, ließ ihn über ihre Finger tanzen, indem sie einen nach dem anderen bewegte, und brachte den Stein mit einer schwungvollen Drehung wieder in die Handinnenfläche. Sie grinste stolz. Diesen neuen Trick hatte sie sich erst vor Kurzem beigebracht und er war ihr super gelungen. Ihre Kunststücke waren vielleicht nichts Besonderes, aber sollte es jemals Weltmeisterschaften im Sorgensteindrehen geben, hätte sie auf jeden Fall Chancen, diese zu gewinnen.
Eine blonde Frau um die fünfzig kam den Gang herabgeeilt und schob noch schnell einen Rucksack in das Gepäckfach, bevor der Flugbegleiter es schloss. Das Gesicht der Frau kam Nora bekannt vor, aber sie wusste auf die Schnelle nicht woher. Nachdem der Rucksack sicher verstaut war, setzte die Dame ihren Weg fort und blieb genau neben Noras Sitzreihe stehen. Als sich ihre Blicke kreuzten, begann die Frau unvermittelt zu lächeln. Dann räusperte sie sich und stupste den Dunkelhaarigen vorsichtig an. »Verzeihen Sie, ich müsste bitte da durch.«
Der Kerl keuchte und blinzelte verwirrt. »Oh, ja sicher. Entschuldigung.« Er drehte sich zur Seite und machte der Dame Platz.
Während sie sich an ihm vorbeischlängelte, fiel Nora endlich ein, woher sie das Gesicht kannte. »Hallo, Frau Bielmann«, sagte sie überrascht und steckte den Sorgenstein zurück in die Hosentasche. »Ohne Ihr Auto hätte ich Sie jetzt fast nicht erkannt.«
Frau Bielmann sank mit einem leisen Kichern auf den Sitz neben Nora. »Es ist ja auch schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben. Wirklich ein Jammer, dass Ihre Eltern in Rente gegangen sind. Die Werkstatt, bei der ich jetzt bin, ist einfach nicht so familiär.« Sie verstaute ihre Handtasche unter dem Vordersitz. »Ich habe mir ja schon vorhin gedacht, ich hätte Sie gesehen, ganz vorn an der Schlange beim Check-in. Aber dann gab es Probleme mit meinem Gepäck. Zu viel Handgepäck.« Sie verdrehte die Augen. »Die werden auch immer strenger. Gut, dass der Flug Verspätung hat und was für ein schöner Zufall, dass wir ausgerechnet nebeneinandersitzen. Ich hätte ja nicht gedacht, dass das Flugzeug so voll sein würde zu dieser Jahreszeit. Meine Schwester lebt schon seit über zwanzig Jahren in Reykjavík, müssen Sie wissen, und ich besuche sie jedes Jahr. Früher war im Winter nicht so viel los. Die wollen wohl alle die Nordlichter sehen. Das ist gerade sehr angesagt.«
Nora war auch überrascht über die volle Maschine gewesen, aber sie kam nicht dazu, das zu sagen.
»Und Sie? Was treibt Sie nach Island? Wollen Sie auch die Nordlichter sehen?«, fragte Frau Bielmann, noch bevor Nora den Mund aufbekam.
»Das auch. Aber eigentlich habe ich vor, in Island zu arbeiten.« So ganz konnte sie es selbst noch nicht glauben.
»Tatsächlich? Wie aufregend. Was wollen Sie machen?«
»Reitguide.« Das Wort klang komisch, war es erst mal ausgesprochen. »Also, ich will auf einem Pferdehof arbeiten und als Guide bei Touren für Touristen mitreiten.«
»Das ist ja großartig. Ich habe erst neulich diese Reportage gesehen über Abenteuerlustige, die von überall auf der Welt nach Island kommen, um dort zu arbeiten. Für die ganzen Touren, die sie jetzt anbieten, brauchen sie Personal. Sagen Sie nicht, Sie haben die Reportage auch gesehen, oder wie sind Sie sonst auf die Idee mit Island gekommen?«
»Ähm …« Sollte Nora Frau Bielmann die Wahrheit sagen? Es war so verrückt, dass sie es sich selbst nicht gern eingestand.
Bevor sie sich entscheiden konnte, erklang durch den Lautsprecher die Stimme einer Stewardess, die sie an Bord begrüßte und sich für die kleine Verspätung entschuldigte. Im Gang standen zwei weitere Flugbegleiter bereit, die Sicherheitsinstruktionen vorzuführen. Nora deutete in deren Richtung. Sie hätte es unhöflich gefunden, jetzt weiterzuquatschen, und im Grunde war es auch nicht schlecht, noch einmal zu hören, was in einem Notfall zu beachten war.
Nach den Sicherheitsinstruktionen sah Frau Bielmann Nora immer noch abwartend an, also gab sich Nora einen Ruck. »Um ehrlich zu sein, hat mich ein Traum auf die Idee mit Island gebracht.«
Frau Bielmann machte große Augen. Die Anzeige zum Anschnallen leuchtete auf. Der Pilot verkündete, dass sie bald starten würden, und wünschte einen angenehmen Flug.
»Ein Traum? Wie aufregend. Das müssen Sie mir erzählen – bitte –, ich liebe solche Geschichten.«
»So besonders war es nicht«, sagte Nora und schnallte sich an. In Wahrheit lief es ihr immer noch kalt den Rücken hinab, wenn sie an diesen Traum dachte. Wie sie in dieser Leere gestanden hatte, als befände sie sich mitten im Weltall, rund um sie herum zuckten Blitze und überall flimmerte dieses grelle blaugrüne Licht. Dann erschallte eine Stimme von allen Seiten, fast ebenso durchdringend wie der Hornstoß gerade eben, und rief ihr zu: »Es ist so weit!«
Das alles behielt Nora für sich und begann stattdessen bei der nächsten Traumszene. »Ich habe von einer ganz speziellen Landschaft geträumt.« Die Traumbilder lagen so klar vor ihrem inneren Auge, dass sie ihr wie Erinnerungen aus dem echten Leben erschienen. »Ich stehe an einem Fenster und sehe hinaus auf eine Wiese, die aussieht, als würde sie aus lauter kleinen Hügeln bestehen. An manchen Stellen kommt extrem schwarze Erde zum Vorschein, wie eine Lavalandschaft, die schon wieder von wuscheligem Gras überwachsen ist. Wenige Bäume stehen verteilt, mit merkwürdig verworrenen Ästen. Ich war mir im Traum vollkommen sicher, dass ich in Island bin.« Sie zögerte kurz. Den Raben, der vor dem Fenster gelandet war und mit grusliger Stimme noch einmal gesagt hatte, es wäre so weit, erwähnte sie nicht. »Ich wollte immer schon mit Pferden arbeiten. Nach dem Traum habe ich mich nach Pferdehöfen in Island umgesehen und so hat eines zum anderen geführt.«
»Du meine Güte.« Frau Bielmann strich ihren Pullover zurück und zeigte Nora ihren Arm. »Sehen Sie sich das an, ich habe Gänsehaut bekommen. Halten Sie mich jetzt bitte nicht für verrückt, aber ich glaube, dass diese Reise ganz wichtig für Sie ist, dass Island wichtig für Sie ist.«
Ein Schaudern überkam Nora, zugleich gingen die Triebwerke an. Der Airbus setzte sich in Gang und bald drückte die Beschleunigung Nora in die Lehne zurück. Sie krallte sich an den Armstützen fest und wusste nicht, ob das flaue Gefühl im Magen von Frau Bielmanns Worten kam oder davon, dass die Maschine gerade abhob und den festen Boden unter sich verließ. Viele mochten ja den Start am liebsten, Nora fand ihn eher abartig. Die g-Kräfte wirkten mit voller Wucht auf den Körper ein und machten einem klar, dass man als Mensch in der Luft eigentlich nichts verloren hatte. Sie war immer erleichtert, sobald sie wirklich »oben« waren, die richtige Flughöhe erreicht hatten und nicht weiter in die Höhe strebten. Damit konnte ihr Körper besser umgehen. Zumindest war es bei ihren bisherigen Flügen so gewesen. Dieses Mal ließ Frau Bielmann ihr kaum Zeit, den Start wahrzunehmen.
»Ich hoffe wirklich, Sie halten mich nicht für irgendeine merkwürdige Tante, weil ich das vorhin gesagt habe«, redete sie ungeachtet aller g-Kräfte weiter, ihre muntere Stimme übertönte das Dröhnen des Antriebs. »Manchmal habe ich Eingebungen … oder halt so ein Gefühl. Und gerade eben, als Sie mir von Ihrem Traum erzählt haben, war das auch so. Es ist Schicksal, dass Sie jetzt hier sind, da bin ich mir sicher. Wer weiß, vielleicht geht es Ihnen wie meiner Schwester und Sie verlieben sich in einen Isländer und wandern aus.«
Allmählich wurden die Triebwerke leiser, Nora lockerte ihren Griff und rückte sich im Sitz zurecht. Frau Bielmann erzählte weiter von ihrer Schwester und von allem, was sie über Island wusste, gab Nora Insidertipps von schönen Plätzen, die sie sich unbedingt ansehen sollte, wenn sie einmal ein paar Tage frei hätte. Nora merkte erst, dass sie sich wieder abschnallen konnte, als die Flugbegleiter mit dem Wagen für Snacks durchgingen.
»Wissen Sie was? Am besten schreibe ich Ihnen die Telefonnummer meiner Schwester auf. Es ist nie verkehrt, in einem fremden Land jemanden zu kennen. Sie ist eine ganz Liebe und sehr hilfsbereit. Zögern Sie also nicht, sie zu kontaktieren, sollten Sie in Schwierigkeiten geraten oder irgendetwas brauchen.« Frau Bielmann kritzelte eine Nummer in Noras Notizbuch.
»Oh, ich denke nicht, dass ich auf dem Pferdehof in Schwierigkeiten geraten werde, aber vielen Dank.«
Frau Bielmann fing Noras Lächeln auf und drückte kurz ihren Arm. »Es ist wirklich so ein schöner Zufall, dass wir gemeinsam fliegen und auch noch unsere Plätze nebeneinander haben.«
Dieser schöne Zufall sorgte dafür, dass Nora ihren Sorgenstein weiterhin in der Hosentasche behielt und es nicht einmal schaffte, ihre Gedanken aufzuschreiben.
Eine Stunde vor der planmäßigen Landung nickte Frau Bielmann ein. Erleichtert über die Stille blickte Nora aus dem Fenster, sah aber nur Dunkelheit. Sie holte ihr Notizbuch aus der Sitztasche und setzte den Stift unter der Telefonnummer, die Frau Bielmann ihr aufgeschrieben hatte, an. Sie notierte das Datum, den 25.01.2024, dann hielt sie inne. Jetzt, da sie endlich Gelegenheit hatte, ihre Gedanken zu ordnen, war ihr Kopf vollkommen leer. Nicht unangenehm leer, sondern irgendwie … friedlich. Sie konnte das alles noch gar nicht richtig fassen. Sie würde in einem fremden Land leben und dort arbeiten, auf einem Pferdehof, ein ganzes Jahr lang. In ihrer Vorstellung hatte sie während des Flugs ganze Seiten über diesen bedeutenden Moment geschrieben, jetzt fiel ihr nichts Besseres ein als: Der Beginn von etwas Neuem. Sie schlug ihr Büchlein zu und verstaute es mitsamt Stift in ihrer Handtasche.
Die Landung verlief ohne Probleme und während Nora neben Frau Bielmann den langen Flur am Keflavík Airport entlangmarschierte, war sie froh, ihrer Angst nicht nachgegeben zu haben. Kurz hatte sie wirklich aus dem Flugzeug stürmen wollen. Sie musste endlich aufhören, ihre Träume so ernst zu nehmen, nach allem, was dadurch schon geschehen war. Obwohl: Hätte sie diesen einen Traum nicht ernst genommen, wäre sie jetzt nicht hier.
Vor dem Abgang zur Rolltreppe blieb Frau Bielmann stehen. »Meine Liebe, ich werde mich hier verabschieden, ich muss noch schnell auf die Toilette, im Flugzeug gelingt mir das nur im äußersten Notfall. Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute.« Unerwartet schlang Frau Bielmann ihre Arme um Nora. »Das ist wirklich ein ganz wichtiger Schritt für Sie. Toll, dass Sie ihn gehen.«
Während Frau Bielmann sie an sich drückte, fiel Noras Blick auf das riesige Schild neben dem Treppenabgang: Exit to Iceland. Diesmal war es Nora, auf deren Arm sich eine Gänsehaut ausbreitete. Etwas überfordert verabschiedete sie sich von Frau Bielmann und dann bahnte sie sich vollbepackt den Weg weiter zur Ankunftshalle, wo tatsächlich ein etwa vierzigjähriger Typ stand und ein Schild mit der Aufschrift Nora Gevatter vor der Brust hielt. Ingemar hatte ihr in der letzten E-Mail geschrieben, er würde sie mit einem Namensschild am Flughafen empfangen, aber Nora hatte es für einen Scherz gehalten. Mit zunehmender Aufregung steuerte sie ihrem eigenen Namen entgegen. Es war immer merkwürdig, Menschen im echten Leben zu treffen, mit denen man zuvor nur schriftlich Kontakt gehabt hatte, ganz besonders, weil Englisch zu schreiben für Nora um einiges leichter war, als es zu sprechen.
Ingemar lächelte breit, als sie vor ihm stehen blieb. Sein rundes Gesicht mit der etwas knolligen Nase war ihr auf Anhieb sympathisch. »So you are Nora, I guess. Iceland can’t wait to greet you with its fabulous weather.« Er zwinkerte und sobald sie beide nach draußen traten, verstand Nora warum.
Es schüttete in Strömen und der Wind peitschte ihnen den kalten Regen schräg ins Gesicht. Nora zog sich die Kapuze weit über die Stirn und eilte Ingemar, der ihren ratternden Koffer hinter sich herzog, nach zu seinem Wagen. Er half ihr auch noch, ihren schweren Rucksack in den Bus zu hieven, bevor sie beide zu den Vordertüren huschten und sich ins Trockene retteten.
»Ich hätte eher Schnee erwartet«, sagte sie, als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
»Schnee, Regen, das wechselt ständig ab.« Ingemar griff nach seinem Gurt. »Aber beides gibt es nur zweimal die Woche.«
»Wirklich?«, fragte Nora und zog sich die nasse Jacke aus.
»Ja, einmal für drei Tage und einmal für vier.«
Sie lachte laut auf und Ingemar startete den Motor. Ein dampfiger Nebel lag in der Luft und ließ den frühen Morgen noch düsterer erscheinen. Nora überlegte, ob es in Österreich auch schon einmal Nebel, Regen und Wind zur gleichen Zeit gegeben hatte. Sie konnte sich zumindest nicht daran erinnern.
Ihr fiel ein, dass sie ihr Handy immer noch im Flugmodus hatte. Das änderte sie schnell und schrieb ihrer Mutter: »Gut gelandet und schon auf dem Weg zum Pferdehof, also alles bestens. Melde mich später.« Fast die gleiche Nachricht schickte sie auch an Paula, der sie ebenso versprochen hatte, sich zu melden, sobald sie angekommen war. Es war fast sieben Uhr und der Morgen graute noch nicht einmal, es wirkte wie mitten in der Nacht. »Danke, dass du mich so früh abgeholt hast«, sagte Nora zu Ingemar.
»Ach, gar kein Problem. Wir müssen noch eine Reisegruppe in Reykjavík holen, also lag es ja fast auf dem Weg.«
Wegen der schlechten Sicht fuhr Ingemar langsam und Nora war dankbar, nichts anderes tun zu müssen, als Beifahrerin zu sein. Allmählich überkam sie Müdigkeit. Bis auf die wenigen Minuten vor dem Abflug hatte sie die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Nun legte sich die Wärme im Wagen besänftigend über sie, der Motor schnurrte gleichmäßig und isländische Musik aus dem Radio lullte sie ein. Ich habe ein ganzes Jahr Zeit, diese Insel zu erkunden, und jetzt ist es sowieso viel zu dunkel, um etwas zu sehen, sagte sie sich und hörte damit auf, sich gegen das Zufallen ihrer Lider zu wehren.
Sie wachte auf, als die Schiebetür aufgerissen wurde und ein Stoß feuchtkalter Luft und munteres Geplapper in den Wagen strömten. Schnell wischte sich Nora über den Mund, meist ihre erste Reaktion, wenn sie in der Öffentlichkeit eingeschlafen war. Gerade wenn der Schlaf sie so plötzlich übermannte, neigte sie zum Sabbern, eine peinliche Angewohnheit. Sie setzte sich aufrecht hin und schielte zurück. Hinter Nora auf den Rücksitzbänken nahmen drei Frauen und zwei Männer Platz. Eine Gruppe aus Holland, wie sich nach der Abfahrt herausstellte. Alles erfahrene Reiterinnen und Reiter, die schon seit Jahren nach Island kamen. Ein seltsames Gefühl baute sich in Nora auf, während die Touristen mit Ingemar plauderten. Vielleicht lag es am Schlafmangel, aber irgendwie kam sie sich blöd vor, als Ingemar erzählte, Nora würde ein Jahr lang auf seinem Hof arbeiten, und in Gedanken hörte sie die Stimme ihres Vaters: Bist du nicht schon zu alt für so einen Job?
»In meiner Schulzeit habe ich in den Ferien auch mal auf einem isländischen Pferdehof gearbeitet«, sagte diese eine Frau, Marike, wenn sich Nora recht erinnerte, dann auch noch. »Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?«
Nora war versucht, ihr junges Aussehen für sich zu nutzen und zu lügen, sich jünger zu machen, aber schließlich blieb sie bei der Wahrheit. »Bald siebenundzwanzig.«
Marike hob überrascht die Brauen. »Ich hätte dich jünger geschätzt.«
Das taten die meisten. Erst vor zwei Wochen war sie im Supermarkt nach einem Ausweis gefragt worden, als sie eine Flasche Rum gekauft hatte.
»Bist du mit deinem Studium fertig geworden und nimmst dir jetzt ein Jahr Auszeit?«, wollte Marike wissen.
Nora schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab davor in einer Autowerkstatt gearbeitet, im Büro.«
»Also ganz was anderes.« Marike musterte sie eine Weile, was Nora unangenehm wurde, sie drehte sich wieder nach vorn und schaute aus dem Fenster. Mittlerweile dämmerte es und der Regen hatte nachgelassen, doch immer noch waberte Nebel um sie herum. An manchen lichteren Stellen erhielt Nora kurze Ausblicke auf das spektakuläre Land, das sich dahinter verbarg. Dann tauchten ungewöhnlich geformte Berge mit verschneiten Spitzen auf, doch die meiste Zeit sah sie nur orangegelbe Grasbüschel, die neben der Straße wuchsen und deren Farbe im Kontrast zu den dunklen Gesteinsbrocken daneben noch greller wirkte. Auch der Nebel war faszinierend. Wie ein rauchiger Dunst lag er in der Luft, leicht schwärzlich verfärbt, als trüge er nicht nur Wasser, sondern auch ein wenig Feuer und Asche in sich.
Während die anderen mit Ingemar über isländische Pferde und die besten Reittouren redeten, fielen Nora erneut die Augen zu. Sie war kurz davor einzunicken, als Ingemar den Blinker setzte und feierlich verkündete: »Willkommen auf Trollaskóli, dem schönsten Pferdehof von ganz Island.« Er bog auf einen schmalen Schotterweg ab, der vor einem niedrig gebauten, lang gezogenen Haus mit weißer Blechfassende endete.
Eine Frau Mitte dreißig – vielleicht Ingemars Frau – empfing die Gruppe herzlich, half ihnen mit dem Gepäck und zeigte ihnen ihre Lodges.
»Normalerweise leben unsere Guides bei uns im Haus.« Ingemar beugte sich ins Auto und holte etwas aus dem Ablagefach. »Aber wir bauen gerade um. Deshalb wirst du eine eigene Hütte ganz für dich haben.« Er überreichte Nora einen Schlüssel und deutete den Hügel nach oben, den die Holländer gerade mit ihrem Gepäck hinaufmarschierten. Dort standen an die zehn Holzhütten. »Deine ist die kleine Rote am Rand.«
Nora blieb der Mund offen stehen. Eine eigene Hütte, nur für sie allein. Sie konnte es gar nicht erwarten, sich darin einzurichten, anzukommen, sich hinzulegen. »Danke«, hauchte sie.
»Ich helfe dir mit deinem Gepäck. Aber hast du noch Lust, eine Runde reiten zu gehen, bevor du es dir gemütlich machst?«
»Jetzt?«
Ingemar nickte grinsend. »Wir haben da zwei Pferde, die unbedingt bewegt werden müssen, und so kann ich gleich mal testen, wie du dich im Sattel schlägst, bevor ich dich auf die Touristen loslasse.« Sein Zwinkern machte deutlich, dass er scherzte, und doch baute sich ein beklemmendes Gefühl in Nora auf. Sie hasste es, unter die Lupe genommen zu werden, selbst wenn es um Dinge ging, die sie so gut konnte wie Reiten. Außerdem war sie müde, geschafft von der Anreise, dem Flug … Aber sie wollte Ingemars Vorschlag nicht ablehnen – nicht schon am ersten Tag – und nachdem er sie extra abgeholt hatte, einen schlechten Eindruck hinterlassen. Sehnsüchtig blickte sie zu der kleinen roten Hütte, bevor sie sich ein Lächeln auf die Lippen zwang. »Okay.«
KAPITEL 2
Benedikt konnte sich das leise Lachen nicht verkneifen, als er die Eichentür aufschwang und ein dumpfer Bass ihm entgegenschlug. In seine Nase stieg dieser typische Geruch von Partys; eine Mischung aus Parfüms, Schweiß, Rauch und Alkohol – etwas, das er in diesen vier Wänden noch nie gerochen hatte. Ein Teil der Einrichtung war noch so, wie er sie in Erinnerungen hatte. Der teure persische Teppich im Foyer, die antiken Schränke an den Wänden und die riesige chinesische Vase vor dem Treppenaufgang. Sosehr er Sylt auch liebte, in dieser Strandvilla hatte er ohne Zweifel die langweiligsten Abende seines Lebens verbracht. Erst wenn genug Wein oder Champagner geflossen war, hatten Tyson und er es geschafft, sich wegzuschleichen und etwas Lustigeres anzustellen, als den Gesprächen ihrer Eltern zu lauschen. Und jetzt war die Villa voll mit jungen Leuten, die zum Beat der dröhnenden Musik nickten, die meisten von ihnen hielten ein Getränk in der Hand. An der Terrassentür standen mehrere Leute mit Zigaretten. Auch wenn die Tür offen stand und sie sich bemühten, ihren Rauch nach draußen zu blasen, hing schon eine leichte Qualmwolke in der Luft. Während der Bass ihm durch den gesamten Körper vibrierte und selbst die Fenster der Villa leise klirren ließ, konnte Ben das empörte Gesicht seiner Mutter förmlich vor sich sehen. Wären Tysons Eltern jetzt hier, hätten sie ihm die Villa wahrscheinlich wieder weggenommen.
Er schmunzelte bei diesem Gedanken und merkte dabei, wie ausgetrocknet sein Mund war. Die Leute schienen mit ihren Getränken aus der Küche zu kommen. Er wollte sich gerade in diese Richtung aufmachen, als über ihm in der Galerie Tyson auftauchte. Eine hübsche Dunkelhaarige ging links von ihm, ein Typ mit roten Haaren an seiner rechten Seite. Beide redeten auf Tyson ein. Der blieb mit gerunzelter Stirn am Geländer stehen und ließ seinen Blick über die vielen Menschen in der Empfangshalle gleiten. Ein selbstzufriedenes Grinsen stahl sich auf Tysons Lippen. Wahrscheinlich nahm er die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit wahr, denn plötzlich schwenkte sein Blick zu Ben. Er hob die Augenbrauen überrascht an und dann ließ er seine Begleiter einfach stehen, lief auf den Treppenabgang zu und breitete die Arme aus. »Beeeen«, rief er so laut, dass er die Musik übertönte, während er die Stufen nach unten trippelte. »Du alter Wikinger, hast du es also doch geschafft?« Tyson schloss Ben in eine freundschaftliche Umarmung.
»Die Nordlichter will ich mir natürlich nicht entgehen lassen«, erwiderte Ben.
Tyson hob lachend den Zeigefinger vor Bens Brust. »Ich wusste, dass dich die Nordlichter fangen, wenn schon nicht die Musik. Schön, dass du es geschafft hast, wirklich, Mann. Freut mich sehr. Wie lange ist es her? Zwei Jahre?«
Zwei Jahre waren es mindestens, aber Ben war zu abgelenkt für eine Antwort. Mittlerweile hatten die zwei Begleiter von Tyson zu ihnen aufgeholt und die dunkelhaarige Schönheit musterte Ben mit stark zusammengezogenen Augenbrauen. Ihm selbst war auch schon aufgefallen, dass er mit seinen Klamotten, den langen Haaren und dem Bart nicht unbedingt zu den anderen herausgeputzten Gästen passte.
»Keine Sorge, Zoe«, sagte Tyson nach einem kurzen Blick zu ihr zurück. »Er ist nur halb so wild, wie er aussieht.« Grinsend legte Tyson seine Hand auf Bens Schulter. »Seine Eltern haben ihm sogar richtig gute Manieren beigebracht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie geschniegelt er an unseren Abendgesellschaften aufkreuzen musste, aber im Herzen ist er immer schon ein Wikinger gewesen.« Tyson lachte. »Während ich an meiner ersten Soundanlage herumprobiert habe, hat er lieber mit Pfeil und Bogen im Garten gespielt.«
In dieser Hinsicht hatten sie wirklich nicht viel gemeinsam gehabt. Aber eine Leidenschaft verband sie bis heute. »Bikst du noch?«
Ben nickte grinsend. »Klar.«
»Dann lass uns morgen eine Runde drehen und die neuesten Tricks austauschen. Oder vielleicht übermorgen. Morgen werde ich wahrscheinlich nicht ganz so fit sein.« Tyson lachte. »Fühl dich wie zu Hause, Ben, genauso wie früher. Ich muss jetzt nach draußen, alles vorbereiten. Die heutige Nacht wird in die Geschichte eingehen.«
Ben hatte die Berichte gelesen, die Tyson mit seiner Einladung mitgeschickt hatte, aber trotz aller Prognosen hatte er seine Zweifel. Nordlichter über Deutschland – das klang zu schön, um wahr zu sein. Die vermehrten Sonnenstürme sollten Sichtungen begünstigen, hatte es geheißen. Ben konnte sich dennoch nicht vorstellen, dass man die Lichter wirklich mit bloßem Auge erkennen würde. Nicht so, wie Tyson es erwartete. Zumindest standen die Chancen vom Wetter her gut. Als Ben Tyson und seinen Freunden nach draußen folgte, empfing sie ein sternklarer Himmel. Zoe und Tyson verschwanden in eine Pagode, unter deren Schutz ein riesiges DJ-Pult aufgebaut war. Weitere Pagodenzelte standen auf dem Grundstück verteilt.
»Gibt’s hier auch was zu trinken?«, fragte Ben den rothaarigen Typen, der bei ihm geblieben war.
»Klar, komm mit.« Der Typ marschierte los, nur um gleich darauf wieder stehen zu bleiben und Ben die Hand zu reichen. »Ich bin übrigens Steffen.«
»Ben.«
Steffen führte ihn zu einem der anderen Zelte, vor dem sich bereits eine kleine Traube von Menschen gesammelt hatte. Um sie herum wurde das Gemurmel immer lauter, immer mehr Leute drängten ins Freie. Plötzlich ging Licht an, verdrängte die Dunkelheit und Ben schnaubte verdutzt, als er erkannte, was Tyson aus dem Strandgarten der Villa gemacht hatte: Er hatte ihn in eine Partymeile verwandelt. Zwischen Zelten, Feuerstellen und Lautsprechern bauten sich riesige, verkabelte Eisengestelle mit unzähligen Scheinwerfern auf. Das bunte Licht erhellte fast das gesamte Grundstück bis zum Meer hinunter. Ben entdeckte sogar einen WC-Container. Die massiven Lautsprecher schwiegen noch, als sie an ihnen vorbeimarschierten, aber das würde bestimmt nicht mehr lange so bleiben.
Ben schielte zum DJ-Pult zurück und sah Tyson mit Zoe daran herumwerkeln. »Ist Zoe Tysons Freundin?«
»Wenn du mich fragst: Ja. Wenn du einen der beiden fragst: Nein.« Steffen blieb kichernd hinter der kleinen Schlange von Leuten stehen. »Zoe ist auch DJane, sie haben gemeinsam ein paar neue Tracks aufgenommen.«
Musik setzte ein, nicht ganz so laut, wie Ben es erwartet hatte. Die Lichter wechselten ihre Farben und begannen, im Takt der Musik zu zucken. Ein süßlicher Geruch kroch in Bens Nase, er drehte sich dem Zelt zu, vor dem sie sich anstellten. Aus den Tassen, die über die Theke gereicht wurden, dampfte es.
»Was willst du trinken?«, fragte Steffen.
Glüh-Gin, Winterpunsch, Glühwein, las Ben von den Schildern an der Wand ab. Etwas so Süßes würde ihm jetzt nur den Mund verkleben. »Gibt’s hier nichts … Normales?«
Steffen musste lachen. »Bier?«
Ben nickte, auch wenn er gegen seinen Durst eher einen Liter Wasser gebraucht hätte. Kurz darauf reichte Steffen Ben eine noch verschlossene Flasche, auf deren Bieretikett über einem Bild von Nordlichtern Aurora Borealis stand. Tyson hatte auch wirklich an alles gedacht.
»Lass uns rüber an den Strand gehen, dort isses gemütlicher«, meinte Steffen. Während er sich vor Ben an den vielen tanzenden Leuten vorbeischummelte, hielt er die eine Hand schützend über seinen dampfenden Glüh-Gin gestreckt.
Als sie das sandige Ufer erreichten, gingen die Lichter aus und die Musik wurde still. Das geschah so plötzlich, dass Ben und Steffen abrupt stoppten und rund um sie herum aufgeschreckte Rufe erklangen.
Ben befürchtete einen Stromausfall, da hörte er die aufgeregte Stimme einer Frau: »Schaut, da oben!« Als er den Blick hob, entdeckte er einen zarten, hellen Streifen am Himmel, fast wie ein Kondensstreifen, nur breiter und grünlich. »Sind das – «
Ein dumpfes Dröhnen riss Ben die Worte von den Lippen. Reflexhaft warf er sich die Hände an die Ohren, die Bierflasche landete im Sand. Doch egal wie fest er die Handflächen gegen die Ohren drückte, der fürchterliche Ton jagte durch seinen gesamten Körper und schwoll immer weiter an. Der Lärm war so betäubend, dass Ben schwarz vor Augen wurde. Er schrie vor Schmerz auf und fiel auf die Knie. Gerade als er fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren, hörte das Dröhnen auf. Genauso schnell und unbegreifbar, wie es gekommen war.
Verdattert starrte Ben auf die Leute, die unverändert in der Dunkelheit standen und zum Himmel blickten.
»Geht’s dir gut?« Jemand fasste ihm an den Arm. Ben drehte den Kopf zur Seite und begegnete dem erschrockenen Blick von Steffen.
Erst jetzt nahm Ben die Hände wieder von den Ohren. »Was zur Hölle war das?«
»Was meinst du?«
»Na, dieses fürchterliche Dröhnen, dieses … Horn.«
Steffen blinzelte verwirrt.
Dann öffnete er den Mund, doch bevor er etwas erwidern konnte, schallte die vertraute Stimme von Tyson durch die Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, Aurora Borealis.« Ein heller, sanfter Klang folgte.
Steffen legte den Kopf in den Nacken, ein begeistertes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ben griff nach seiner Bierflasche, die vor ihm im Sand steckte, immer noch spürte er seinen Puls beschleunigt pochen, ansonsten fühlte er sich merkwürdig hohl. Er schüttelte den Kopf, weil er sich nicht erklären konnte, was eben vorgefallen war. Dann hob auch er den Blick und kam endlich wieder auf die Beine.
Die feinen grünen Streifen, die er zuvor entdeckt hatte, waren eine Spur deutlicher geworden. Ein dumpfer Bass ertönte, gefolgt von einer kurzen Pause. Und dann setzte der Bass wieder ein, steigerte sich auf eine Weise, die so mitreißend war, dass sie fast schon schmerzte. Die Leute um ihn herum drehten völlig durch. Jubelnd sprangen sie zur Musik, tanzten in der Dunkelheit, während über ihnen am Himmel noch weitere Schwingen grünen Lichtes auftauchten. Der Bass setzte erneut aus, eine zarte Frauenstimme hallte durch die Boxen: »Aurora Borealis.« Darauf folgte ein heller sphärischer Klang, zu dem der Bass langsam und steigernd wieder einsetzte. Eigentlich war Ben kein großer Fan von Tysons Musik, er hörte eher Rock als Techno, aber dieser Track riss ihn mit und dann auch noch das Glühen am Himmel …
»Ich fass es nicht«, rief Steffen über die Musik hinweg. »Der Teufelskerl hatte recht, er hatte wirklich recht.«
Obwohl Ben es vor sich sah, konnte auch er es kaum glauben. Er konnte nicht einmal einen klaren Gedanken fassen und fühlte sich immer noch so hohl, fast so, als hätte dieses unnatürliche Dröhnen vorhin etwas aus ihm herausgerissen. Ein plötzliches Flackern zog seine Aufmerksamkeit auf den Himmel zurück. Ein bunter Strahl raste über das dunkle Firmament. Keine Nordlichter. Es sah eher aus, als würde ein greller Regenbogen in rasender Geschwindigkeit auf die Erde herabjagen. Der bunte Lichtstrahl schlug unweit von ihnen in die Dünen ein und Ben zuckte zusammen, in der Erwartung eines Knalles. Aber nichts – kein Laut und auch keine Lichtexplosion – war mehr zu sehen. Trotzdem hatten so viele Menschen zugleich erschrocken nach Luft geschnappt, dass ihr Japsen kurzzeitig die Musik übertönt hatte. Der Rhythmus des Tracks wurde schneller, hinter ihnen gingen wieder ein paar der Scheinwerfer an, gedämpft sickerte ihr Licht über den sandigen Boden, reichte aber nicht bis an die Stelle, wo der Regenbogenstreif erloschen war. Erneut kam dieser fast nicht auszuhaltende Moment der Steigerung in der Musik, doch diesmal blieb Ben davon unberührt. Er starrte in die Dunkelheit. Bewegte sich dort etwas?
»Was für ʹne geile Scheiße«, drang Steffens Jubelruf an Bens Ohr. »So etwas Unglaubliches habe ich noch nie gesehen!«
Ben kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt weiter auf die Dünen zu. Dort bewegte sich tatsächlich etwas. Ein wabernder Schatten kam näher, eine menschliche Gestalt. Sie trat in das dumpfe Licht der Scheinwerfer. Ben stockte der Atem, als er eine Frau erkannte, die eine Rüstung aus Leder und goldenem Stahl trug. Das tanzende Licht der Scheinwerfer blitzte im Gold der wellenartig geschwungenen Schulterharnische. Die lange Mähne der Frau war zum Teil zu Zöpfen geflochten, ähnlich wie Bens eigenes Haar. Es fehlten nur noch ein Helm mit Flügeln, Schild und Speer, dann wäre sie als Walküre durchgegangen.
Steffen pfiff durch die Zähne. »Genau dein Typ, was?« Er klopfte Ben auf die Schulter und Ben zuckte ob der Berührung zusammen, wandte den Blick aber nicht von der Frau ab. Es war ein unwirklicher Moment. Als wäre eine seiner Zeichnungen zum Leben erwacht und würde auf ihn zumarschieren.
Je näher sie kam, desto deutlicher erkannte er allerdings, dass ihm das Gesicht der Frau vollkommen fremd war. Seltsame Symbole in schwarzer Farbe rankten sich über ihre Stirn und an den Schläfen herab, vielleicht lag es an dem Partylicht, das wieder zu tanzen angefangen hatte, aber er hatte das Gefühl, als würden sich die Symbole bewegen. Jeder Muskel in Bens Körper spannte sich an. Instinktiv scannte er die Frau nach Waffen ab, er entdeckte aber nur eine leere Schwertscheide an ihrem Gürtel. Trotzdem trat er einige Schritte auf sie zu. Ihn überkam das Gefühl, sie aufhalten zu müssen, sie nicht näher an die anderen heranzulassen.
Die Frau kniff leicht die Augen zusammen, dann blieb sie stehen und hob überrascht die Brauen. Schließlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell einen von euch finde«, rief sie, um die Musik zu übertönen. Dann marschierte sie entschlossen weiter auf Ben zu. Als sie nur eine Armlänge vor ihm stehen blieb, funkelte es in ihren Augen. »Lust auf ein Tänzchen, Tyrsson?«
Hatte sie ihn gerade Tyson genannt? Durch die Musik hatte es komisch geklungen, als wäre ein r dabei.
»Wenn du Tyson suchst, der ist da hinten.«
Ben drehte sich zur Seite, wollte auf das DJ-Zelt deuten, da sprang die Fremde ohne jede Vorwarnung auf ihn zu. Im Sprung streckte sie das Bein nach ihm aus und schmetterte ihren Fuß mit voller Wucht gegen seine Hüfte. Die Heftigkeit des Tritts riss Ben von den Beinen, schleuderte ihm die Bierflasche aus der Hand und er landete rücklings im Sand. Einen Moment lang drehte sich die ganze Welt, aus dem Augenwinkel sah er lederne Stiefel, die im Gewitter des Partylichts auf ihn zukamen. Hastig rappelte er sich auf. »Was soll das?«, schrie er der fremden Frau zu.
Sie grinste mit hasserfülltem Blick und wirbelte in einer drehenden Bewegung auf ihn zu, dabei holte sie mit der Faust aus. Ben warf den linken Arm nach oben, gerade noch rechtzeitig, um ihren Schlag abzuwehren.
»Du bist zumindest nicht ganz aus der Form.« Lachend holte sie mit dem Fuß aus und trat Ben so schonungslos gegen das Schienbein, dass er vor Schmerz aufschrie und zurückstolperte.
»Die Zeit der Späße ist jetzt vorbei, Tyrsson«, rief sie triumphierend und holte zum nächsten Fausthieb aus.
Erneut schaffte Ben es, ihren Angriff abzuwehren. »Hör auf damit!«
Sie dachte gar nicht daran und trat mit dem Bein nach ihm aus. Er entkam ihrem Tritt, indem er sich zur Seite wegdrehte.
»Sehr gut, erinnere dich.« Ihre Stimme vermischte sich mit dem Bass. Auf ihrer Rüstung blitzte das Scheinwerferlicht und sie setzte zum nächsten Angriff an. Ben hatte keine Ahnung, woher die Reaktion kam, aber noch einmal gelang es ihm, ihren Hieb zu parieren. Er erwischte ihren Arm und hielt ihn fest, in der Hoffnung, sie endlich zu stoppen.
Und wirklich, sie lehnte sich mit einem versöhnlichen Lächeln an ihn an. »Du hast den Göttern ein Versprechen gegeben«, raunte sie ihm ins Ohr. »Jetzt ist die Zeit gekommen, es einzuhalten.«
Sie riss sich von ihm los und stieß Ben mit beiden Händen gegen die Brust. Er konnte sich gerade noch fangen und auf den Beinen halten, da jagte die Fremde mit einem gellenden Schrei auf ihn zu. Eine Folge aus Schlägen und Tritten hagelte auf ihn ein. Wie in einem Tanz wich er ihren Attacken aus, der dröhnende Bass begleitete seine Bewegungen. Das wild umhertanzende Licht verwischte seine Sicht, im nächsten Moment holte sie mit links aus, Ben hob den Arm zu spät, da landete auch schon ein Faustschlag in seinem Gesicht und der nächste in seiner Magengrube. Ben krümmte sich vor Schmerz und hörte die Frau höhnisch lachen. Er biss die Zähne zusammen und stellte sich wieder aufrecht hin, schon donnerte der nächste Schlag auf ihn zu. Diesmal gelang es Ben, den Hieb der Frau am Handgelenk abzufangen. Er riss sie an sich und umschlang sie fest mit beiden Armen. »Hör jetzt auf, okay?«, schrie er sie an.
Als Antwort stieß sie nur ein ersticktes Keuchen aus.
»Beruhige dich, dann lass ich dich los.«
Ihr Brustkorb pumpte matt unter seinen Armen, dennoch schaffte sie es, so laut zu sprechen, dass Ben sie über die Musik hinweg verstand: »Es ist an der Zeit, dein Versprechen einzulösen, die Götter verlangen nach deiner Hilfe.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«
»Doch.« Sie schnappte nach Luft. »Du hast das Gjallarhorn gehört, gib es zu. Nur du. Weil nur die erwählten Krieger es hören können.«
Ein eiskalter Schauer jagte Bens Rücken hinab. Ohne dass er es wollte, schraubte er seine Arme fester um sie. Das wurde ihm erst bewusst, als die Fremde schmerzvoll aufstöhnte und im nächsten Moment schlaff in seine Arme sank. Sofort lockerte Ben seinen Griff, da riss sie unverhofft den Kopf zurück und schlug ihren Schädel mit voller Wucht gegen Bens Nase. Er stieß einen Schmerzensschrei aus. Die Finger der Frau krallten sich in seine Jacke, sie duckte sich in einer flinken Bewegung, trat ihm gleichzeitig gegen die Beine und schleuderte ihn über ihren Rücken.
»Fuck!«, hörte er Steffen über die Musik hinweg rufen, als er am Boden aufschlug und der Schmerz des Aufpralls seinen Körper lähmte, ihn für wenige Sekunden sogar das Pochen seiner Nase vergessen ließ.
»Das war und ist deine größte Schwäche, Tyrsson: Du unterschätzt deine Gegner.«
Die Frau stand aufrecht und sah frostig lächelnd auf Ben herab, während er gekrümmt dalag und sich die Hände an die schmerzende Nase presste. Als sie sich bückte und die Hand nach ihm ausstreckte, erwartete er den nächsten vernichtenden Schlag, doch sie berührte ganz sanft seine Stirn. Ein Schauer, der warm und kalt zugleich war, prickelte über Bens Haut, dort, wo ihre Finger auftrafen. Der Schauer lähmte ihn, fesselte ihn am Boden, während sie in aller Ruhe mit dem Finger etwas auf seine Wange malte.
Dann hielt sie unvermittelt in der Bewegung inne und drehte den Kopf. Über ihnen am Himmel glühte es bunt auf. Auch dieser Lichtstrahl sauste wie ein herabfallender Stern vom Himmel. Sein Leuchten verglomm in weiter Ferne.
Ruckartig zog die Fremde ihren Arm zurück. »Ich warte in Island auf dich. Finde die anderen und dann findet mich.« Mit diesen Worten sprang sie auf die Beine und rannte los, zurück in die Dunkelheit, aus der sie gekommen war.
In einem Anflug von Blutrausch schoss Ben auf und wollte ihr nach. Doch bevor er losstürmen konnte, schraubte sich eine Hand in seine Jacke. Er fuhr herum, bereit, die nächste Attacke abzufangen, doch da stand Steffen und starrte ihn mit kreidebleichem Gesicht an. Die Lichter tanzten nicht mehr, nun leuchteten sie starr die Umgebung aus, und auch die Musik hatte aufgehört.
»Alter.« Steffen stieß ein nervöses Gelächter aus. »Was. War. Das?« Er leerte seinen Becher mit einem riesigen Schluck. »Tyson hat ja gesagt, dass du sportlich bist, aber er hat nicht erwähnt, dass du ein verdammter Ninjakrieger bist. Wo hast du gelernt, so zu kämpfen?«
»Ich …« Ben wusste es nicht, er hatte noch nie gekämpft, noch nie bis zum heutigen Tag.
Steffen bückte sich und fischte nach der Bierflasche, die immer noch im Sand steckte, um sie Ben zu reichen. »Das war eine Show, oder? Du hast diese Schildmaid hierherbestellt und das alles geplant, oder?«
Ben schüttelte den Kopf. Angespannt blickte er dorthin, wo die Verrückte verschwunden war. Er konnte nicht einmal mehr Umrisse von ihr sehen.
»Was hat sie dir da ins Gesicht geschmiert?«
Ben fasste sich an die Wange, wo er immer noch diesen heiß-kalten Schauer spürte. Er ertastete etwas Klebriges und zog die Hand zurück. Teerartige schwarze Farbe bedeckte seine Fingerspitzen. Fahrig strich er sich die Hand an der Hose sauber, zugleich hörte er neben sich ein Ploppen. Der Kronkorken flog im hohen Bogen durch die Luft, Bier schäumte aus der Flasche. Steffen wischte den sprudelnden Schaum weg und reichte Ben das Bier. »Das kannst du jetzt gebrauchen.«
Ben nahm die Flasche und setzte sie ohne Zögern an die Lippen. Die kalte Flüssigkeit rann ihm die Kehle hinab, seine Wange und auch die Stirn begannen immer mehr zu brennen. Er konnte die Gedanken nicht ordnen, konnte gar nichts von dem, was eben passiert war, in eine Reihenfolge bringen. Gjallarhorn. Götter. Versprechen. Seine Kehle versperrte sich, das Bier sudelte ihm über die Lippen. Er setzte die Flasche schnell ab und wischte sich über den Bart.
Steffen lachte bei seinem Anblick, es klang immer noch angespannt, dann tippte er Ben mit dem Finger gegen die Brust. »Was auch immer du dir eingeworfen hast, Digger, ich will das Gleiche haben.«